You do not walk alone
Die Welt steht Kopf. Die globale Verbreitung des Covid-19 hat unsere selbstverständlichen Freiheiten stark eingeschränkt. Wo gestern noch Möglichkeitsräume waren, stehen jetzt Einschränkungen, Verbote und neue soziale Umgangsformen. Wir erfahren wie fragil unsere Gesellschaft sein kann und dass das Leben keine Selbstverständlichkeit ist. Die Corona-Krise hat unseren Puls beschleunigt. Die Sorge um die Gesundheit, um nahe Familienangehörige und Freunde, Existenzsorgen durch den Einbruch der Wirtschaft oder Ängste vor Vereinsamung lassen uns innerlich nicht zur Ruhe kommen. Wir verschlingen alle Nachrichten, gierig hängen wir am Newsticker und versuchen über die Sozialen Medien unseren Durst nach Neuigkeiten zu stillen. Wir suchen nach Antworten, wo es noch keine Antworten gibt. Die Unsicherheit, die Auswirkungen durch Ausgangs- und Kontaktsperren, können zu Dynamiken führen, zu einem Kreislauf, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt: Hysterie, Hamsterkäufe, Vereinsamung, häusliche Gewalt, Depressionen und anhaltende Angstzustände.
Die Corona-Krise, mit all ihren negativen Folgen, birgt aber auch Chancen. Viele kreative Initiativen von engagierten Leuten und Kulturschaffenden haben sich dieser Herausforderung angenommen. Wunderbare Projekte der Solidarität, der gegenseitigen Unterstützung oder der sinnvollen Beschäftigung werden weltweit geplant und umgesetzt: Nachbarschaftshilfen, Musizieren auf dem Balkon für/mit Nachbarn, Ausstellungen werden digitalisiert und können online besichtigt werden, Konzerte und Theateraufführungen werden live gestreamt. Ein unglaublicher Schub der Digitalisierung hat eingesetzt. Alles, was wir schätzen und gerade nicht mehr möglich ist, versuchen wir mit digitalen Mitteln zu kompensieren.
Doch nutzen wir dadurch wirklich die Chance der Krise? Überschütten wir nicht gerade unseren verbliebenen Möglichkeitsraum mit immer schnelleren digitalen Ablenkungen? Sollten wir nicht jetzt die Zeit nutzen, um zur Ruhe zu kommen und uns selbst ganz neu zu erfahren? Bietet sich nicht jetzt gerade ein Reflexionsraum, um die Gesellschaft und das eigene Ich eingehend zu betrachten?
Der Künstler Daniel Beerstecher glaubt, dass wir gerade einen historischen Moment erleben und lädt dazu ein, gemeinsam zu entschleunigen, die ungewollte Situation zu ergründen und die Auf-dem-Kopf-stehende-Welt in ihrer neuen Perspektive zu betrachten.
Daniel Beerstecher: Ich lade alle Menschen ein einen Slow-Walk zu machen. Vom 29. März bis zum 05. Mai bin ich täglich in einem radikal entschleunigten Tempo durch meine Wohnung gelaufen. Das Konzept beruht auf dem Kunstprojekt Walk-in-Time, welches im letzten Sommer realisiert wurde (Mehr Information hier). Grundlage ist eine extrem langsame Geh-Meditation, mit dem Ziel nicht mehr als 120 m pro Stunde zurückzulegen; nun aber in den eigenen vier Wänden. Von der Wohnungstüre zur Terrasse, am Sofa vorbei zum Fenster. Eine Runde durch die Küche und ganz langsam ins Bad und wieder zurück. Jeder kann seinen Weg finden. Wichtig ist nur: Gehen Sie langsam und achten Sie auf Ihren Atem (Siehe unten).
Verbundenheit ist wichtig und die digitalen Medien können uns verbinden. Deshalb wurde die Entschleunigung im Zeitraum vom 29. März bis 05. Mai live in den Sozialen-Medien und auf der Webseite www.youdonotwalkalone.de gestreamt. Dabei ging es nicht darum noch ein weiteres digitales Angebot zu schaffen, sondern darum die Entschleunigung in die digitale Welt zu tragen. Nehmen Sie sich die Zeit und beobachten Sie den Künstler, wie er sehr langsam durch seine Wohnung geht. Es passiert nicht viel? Oder doch?
Unter How to finden Sie ein kleines Video-Tutorial, welches die genaue Abfolge von Bewegung und Atmung erklärt. Unter Walk-in-Time befindet sich ein Kurzbericht zum Slow-Walk-Marathon und weiterführende Links.
Daniel Beerstecher, geboren 1979 in Schwäbisch Hall, lebt und arbeitet in Stuttgart, Rio de Janeiro und auf Reisen. Von 2003-2010 studierte Beerstecher an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er erhielt für seine künstlerische Arbeit zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen und stellte seine Werke international in renommierten Institutionen aus, dazu gehören unter anderem Einzelausstellungen in São Paulo, Göppingen, Rio de Janeiro, Karlsruhe, Stuttgart und Berlin sowie die Teilnahmen an Gruppenausstellungen im Istanbul Modern, Istanbul; die B3 Biennale of the Moving Image, Frankfurt und die Montevideo Biennale 500 Years of Future. Installationen, internationale Reise- und Video-Performances, wo Daniel Beerstecher auf ein zufälliges Publikum trifft, charakterisieren sein künstlerisches Schaffen. Die Kunst wird dabei aus den konventionellen Räumen entnommen und entsteht im öffentlichen Raum im Prozess. Dabei ist der Kontakt zum Menschen ein entscheidender Bestandteil seiner Arbeit. Das Ziel dabei ist, neue Interpretationsräume zu erschaffen und in gewissem Sinne auch die „Weltordnung“ auf die Probe zu stellen.
Ein ausführliches Künstlergespräch mit Daniel Beerstecher im Podcast „Art Companion” von Benjamin Thaler über seinen künstlerischen Werdegang finden Sie hier: Reisen als Kunst.
Ein spannendes Künstlergespräch mit Daniel Beerstecher im Podcast „Art Companion” von Benjamin Thaler über die Performance Walk in Time finden Sie hier: Gehe an deine Grenzen!
Projektassistenz:
Clair Bötschi (Creative Writing - Content-Management)
Oliwia Hälterlein (Pressearbeit, Lektorat, Organisation)
Anna Okupski (Social Media und Pressearbeit)
Programmierung der Webseite:
Alex Kern
Grafik der Webseite:
Marina Gärtner, it’s mee
Besonderen Dank an:
Flavia Mattar
Familie Beerstecher
Fotos:
Leah Girardin (Portrait)
Stanislaus Plewinski (Slow-Walk)